Sie sind hier

facebook
twitter

Feeding the world - Sommerausstellung 2010
Isabel Albrecht, Verónica Aguilera, Valentin Beinroth, Johanna Bieligk, Nicolaj Dudek, Wiebke Grösch, Özlem Günyol, Florian Jenett, Stefanie Kettel, Sandra Kranich, Astrid Korntheuer, Levent Kunt, Mustafa Kunt, Frank Metzger, Nashun Nashunbatu, Stefanie Pretnar, Katharina Schücke, Oliver Voss
18.08.2010 bis 12.09.2010

Eröffnung

Dienstag, 17.08.2010 - 19:00 uhr

Öffnungszeiten

Dienstag - Freitag
11:00 - 19:00 Uhr

Samstag, Sonntag
12:00 - 18:00 Uhr

Ort

basis e.V. Gutleutstraße 8-12 60329 Frankfurt am Main

Begrüßung: Prof. Dr. Felix Semmelroth, Kulturdezernent der Stadt Frankfurt am Main

Künstler*innen bewegen sich in mehreren Räumen. Sie arbeiten im Atelier, oft bis spät in die Nacht hinein, sie gehen nach draußen und zeigen ihre Kunst in Ausstellungen, sie setzen sich mit den Städten auseinander, in denen sie leben, oder mit ganz anderen Orten, denn sie reisen viel und weit.
Wer in den eigenen vier Wänden vor sich hinbrütet, kommt manchmal auf merkwürdige Gedanken, die er besser nicht in die Tat umsetzt. „Tauben vergiften im Park“ war solch eine Idee, die der Wiener Liedermacher Georg Kreisler 1958 mit ironischer Bösartigkeit textete und vertonte. Aber auch Futter, das nicht kontaminiert ist, darf das Atelier eigentlich nicht verlassen. Denn Wiebke Grösch und Frank Metzger wurde es nicht gestattet, an der Frankfurter Konstablerwache durch fliegende Händler Taubenfutter an die Passanten verteilen zu lassen. Auch auf dem Markusplatz in Venedig ist das Füttern der Vögel, das fast zum obligatorischen Touristenprogramm gehörte, seit 2007 aus hygienischen Gründen verboten. Spiegelt sich im Umgang mit ihren gefiederten Bewohnern nicht auch ein grundsätzliches Verständnis der Stadt und ihrer öffentlichen Räume?
Der oft widerständigen Realität des „Draußen“, das die diesjährige Berlin-Biennale programmatisch beschwor, steht der imaginierte Raum gegenüber, wie er sich auf den großformatigen Gemälden des aus der inneren Mongolei stammenden Nashun Nashunbatu findet. In der Weite der Landschaft, deren fast meditative Ruhe durch Feuersbrünste oder andere Naturereignisse unterbrochen wird, verbindet der Maler eigene Kindheitserinnerungen mit der chinesischen Bildtradition und Einflüssen der europäischen Landschaftsmalerei.
Die imaginierte Landschaft fungiert wie ein Spiegel der Seele, aber ihre Einheit ist eine fingierte. Landschaftsbilder waren schon Collagen, längst bevor es diesen Begriff gab, und sind es deutlich bei Stefanie Kettel, wo Bergansichten, wie wir sie auf Ansichtskarten finden könnten, unvermittelt neben abstrakten, kristallinen Formationen stehen.
Woher kommen die Bilder? Oder ist nicht die bessere Frage: Was ist aus dem geworden, was ins Bild gesetzt wird? Nicolaj Dudek ist ein Zeichner, der wie ein Seismograph auf die visuelle Umwelt reagiert, sie gleichsam auf subjektive Weise kartographiert, den Blick auf überraschende Details lenkt oder die gezeichneten Motive bisweilen auch wie Phantombilder wieder verschwinden lässt.

Özlem Günyol und Mustafa Kunt lassen die objektive Kartographie gleichsam implodieren, indem sie die Umrisse aller Länder der Welt übereinander zeichnen. Auch alle 246 existierenden Nationalflaggen liegen aufeinander und ergeben ein einziges Bild. Das sind gleichsam Phantombilder der Globalisierung, deren für viele Menschen unüberwindbare Grenzen sich hier zumindest imaginär aufzulösen scheinen.

Eine gänzlich neue Vermessung der Welt nimmt Valentin Beinroth vor. Er spielt systematisch die Möglichkeit durch, dass Maßverhältnisse ganz anders festgelegt sein könnten als in den existierenden Normen, die ja bereits unterschiedlich sind, wie schon die Differenz zwischen Zentimetern und Inches zeigt. Ein vergrößerter Referenzwürfel der NASA ist auf die älteste bekannte Maßeinheit der Welt, die Nippur-Elle, bezogen. Auf Neuvermessungen wirtschaftlicher Transportwege spielt ein wie ein asiatischer Paravent aufgestelltes Objekt an, das auf beiden Seiten mit dem Abbild je eines Seefrachtcontainers bemalt ist. Die Beschriftung mit den Namen der in Hongkong und Taiwan ansässigen Reedereien ist auf den Containern übermalt und nur noch zu erahnen.

Wir sehen ausschließlich geometrische Formationen. Oder sehen wir doch etwas anderes? Sind die Dreiecke auf Sandra Kranichs Aquarellen und ihre Anordnung Ergebnis eines immanenten Kalküls oder sind sie einer äußeren Realität abgelesen und dann isoliert ins Bild gesetzt? Was hier offen bleibt, ist bei Katharina Schücke Ergebnis einer systematischen Recherche. Die Auseinandersetzung der Künstlerin mit dem architektonischen Erbe der DDR, speziell mit den Bauten Josef Kaisers um die Berliner Karl-Marx-Allee herum, findet einerseits in Form fast zur Unkenntlichkeit bearbeiteter Fotografien statt. Zum anderen thematisiert Schücke die Konfrontation architektonischer Geschlossenheit mit dem Bedürfnis nach Öffnung und Durchlässigkeit. Für die Zeit der Ausstellung steht ihr Atelier offen, denn die ausgehängte Tür ist Bestandteil ihrer Installation geworden.
Die kreisrunde Neonröhre von Levent Kunt könnte, für sich genommen, ein selbstgenügsames Lichtobjekt in der Tradition von Dan Flavin sein. Aber auch hier ist die Abstraktion eine reduzierte „Übersetzung“, nämlich eines Turnreifens von 1,80 Durchmesser. Kunt hat in Paris einen Straßenkünstler beobachtet, der mit dem Reifen die Touristen unterhält, was auf fünf lehrbuchartigen Umrisszeichnungen dargestellt ist.

Die Bücher, die Oliver Voss im Regal stehen hat, sind neben der Musik eine der wichtigsten Inspirationsquellen für seine Kunst. Kann man auf einer Fotografie die Titel noch identifizieren, sind auf einem Gemälde die Buchrücken zu schwarzen, gestischen Balken geworden. Die „gelöschte“ Information führt zu einem abstrakten Bild. Auf den Röhrenmonitoren, die in Florian Jenetts Installation rücklings auf dem Boden liegen, ordnen sich ganz andere Informationen zu abstrakten seriellen Mustern. Es handelt sich um Werbebanner, die auf über 9000 internationalen Newsportalen im Internet laufen. Eine spezielle Software lädt solche Banner kontinuierlich live herunter, so dass trotz des Zufallsprinzips ein vielfältiges Bild dessen entsteht, was weltweit an einem bestimmten Zeitpunkt beworben wird – auch ein Phantombild der Globalisierung.
Ein anschauliches Bild der unmöglichen „Rückübersetzung“ des digitalen Geldverkehrs in physische Erfahrbarkeit liefert Jenett mit einem gewöhnlich für Bauschutt, Sand oder Kies verwendeten FIBC-Sack. Er ist mit einer Tonne Eurocents gefüllt, was dem angesichts des Gewichts vergleichsweise bescheidenen Gegenwert von 4347,82 Euro entspricht. Früher gab es einen Witz über die internationale Anpassung der polnischen Währung: ein Pfund Sterling = ein Pfund Zloty.

Eine Reflektion des Digitalen im analogen Material stellen auch die Bilder Isabel Albrechts dar. Fotografische Ausgangsmotive, etwa der Kelch einre Blume, lösen sich in einem Raster aus Grautönen so stark auf, dass fast der Eindruck der Monochromie entsteht und gleichzeitig ein Trompe-l’oeil-Effekt: Aus der Distanz wirkt wie ein Steck- oder Paillettenbild, was sich aus der Nähe als sorgfältig gemalt entpuppt.

Den Eindruck von Trompe-l’oeil-Bildern können auch Astrid Korntheuers Fotografien erwecken. Die komplexen bunten Arrangements aus Papieren, Schnüren und diversen Materialien bilden ein fast undurchdringliches Gewirr, das auch bei längerem Hinsehen keine klare räumliche Orientierung erlaubt, aber eine sorgfältige kompositorische Ordnung offenbart.
Von der Fülle in die Leere: Fünf trostlose Schulhöfe führt Verónica Aguilera in einer Videoinstallation vor. Dass wir uns in Spanien befinden und nicht beispielsweise in der Region Frankfurt, wäre für Uneingeweihte ein ähnliches Ratespiel wie bei der Arte-Sendung „Carambolage“, wo es herauszufinden gilt, ob ein bestimmtes Motiv in Deutschland oder in Frankreich aufgenommen wurde. Die lautstarken Sirenen, mit der die Schüler zum Unterricht zurückgerufen werden, klingen für hiesige Ohren allerdings ungewohnt und wie ein Probealarm. Es sind nämlich gar keine Kinder auf dem Hof, die Aufnahmen wurden während der Sommerpause gemacht.
Stefanie Pretnar und Johanna Bieligk sorgen dafür, dass es nicht nur im Sommer Pausen geben kann und beschreiben ihr Konzept selbst folgendermaßen: "Die raumgreifende Arbeit »BENEFITS IN KIND (FÜR MICH, FÜR MEINE FREUNDE)« hält den Ausstellungsbetrieb auf, hält die Künstler von "basis" ab vom Kunst machen. Eingeladen wird zu Reflexion, Motivation und Wachsamkeit über den Konsum von Kaffee. Die Pause erhöht den Herzschlag. Durch die kontinuierliche Tätigkeit der "Bartenders" wird ein Programm geschaffen, welches über den Eröffnungsabend hinausreicht."

Wenn es der Kunst gelingt, immer wieder für produktive Unterbrechungen zu sorgen, immer wieder anschauliche Metaphern zu liefern, oder anders ausgedrückt, neue Blickwinkel auf die Komplexität der heutigen Welt zu öffnen, ist sie ein unverzichtbares Grundnahrungsmittel und auch ein wirksames Gegengift gegen Weltbilder, denen der von Robert Musil beschworene Möglichkeitssinn verloren gegangen ist.

kuratiert von:
Ludwig Seyfarth

Paper Feeder
basis Posterpublikation

Zusätzlich zur kuratierten Ausstellung stellen die bei basis arbeitenden Kreativen sich und ihre Arbeit in Form eines Plakat-Zeitungsprojektes vor. Hierzu gestalten die Teilnehmer A1 Plakate, die an die Wände des Ausstellungsraums plakatiert werden. Zudem werden die einzelnen Plakate zu einem Magazin zusammengestellt, das in der Ausstellung zur Ansicht bereit liegt und von den Besuchern mitgenommen werden kann.

Ludwig Seyfarth lebt als Kunstkritiker und freier Kurator in Berlin.
Seit 1987 schreibt er regelmäßig für Zeitschriften und Ausstellungskataloge. Zu seinen Ausstellungsprojekten zählen u.a. Fliegende Kühe und andere Kometen. Nicht nur komische Dinge in der Kunst (zusammen mit Andreas Baur), Villa Merkel, Esslingen, 2006/07; Geheimnis und Öffentlichkeit, Blashofer Contemporary Projects, Berlin, 2006/07; The Fate of Irony, KAI 10, Düsseldorf, 2010 (zusammen mit Zdenek Felix) und Liaisons Dangereuses, Thomas Rehbein Galerie, Köln 2010. Aktuelle Buchveröffentlichung: Unsichtbare Sammlungen. Kunst nach der Postmoderne, Reihe Fundus, Philo Fine Arts, Hamburg 2008. Ludwig Seyfhart hat Lehraufträge an mehreren deutschen Kunsthochschulen inne. 2007 erhielt er den ADKV-ART COLOGNE Preis für Kunstkritik.

Mit freundlicher Unterstützung von:

http://basis-frankfurt.de/sites/default/files/Logo_Kulturamt_10.jpg